Tools for Thought

Eine neue Software-Generation für das persönliche Wissensmanagement

2 Prinzipien und Methoden des persönlichen Wissensmanagements

2.1 Wo beginnt Wissensmanagement?

Ausgangspunkt des persönlichen Wissensmanagements ist die Erkenntnis, dass das menschliche Gehirn nicht ansatzweise all das speichern kann, was ein Wissensarbeiter für seine Tätigkeit braucht. Er muss deshalb Informationen in Dokumentationssysteme auslagern, um später bei Bedarf wieder darauf zugreifen zu können. Diese Systeme können auf analogen Werkzeugen (Notizbücher, Ringordner, Hängeregister, Karteien) oder auf digitalen Werkzeugen (Notizprogramme, Wikis, Datenbanken) basieren. Unabhängig von der konkreten Form geht es immer darum, einmal beschaffte oder erarbeitete Information im Hinblick auf eine spätere Nutzung möglichst einfach verfügbar zu halten. William P. Jones nennt dieses Prinzip «Keeping Found Things Found (KFTF)». [10]

Betreibt man bereits Wissensmanagement, sobald man sich Notizen macht? Oder anders gefragt: Was genau macht persönliches Wissensmanagement aus? Andy Matuschak unterscheidet in seinem kurzen, aber oft zitierten Text «Most people take only transient notes» [11] zwischen Transient Notes und Evergreen Notes. Transient Notes sind jene Notizen, die wir uns in Vorlesungen, in Sitzungen, während der Lektüre oder beim Betrachten eines Videos machen. Evergreen Notes hingegen entstehen erst dadurch, dass man Transient Notes im Hinblick auf die spätere Nutzung aufbereitet. Andere Autoren nutzen dafür das Begriffspaar Temporary Notes bzw. Permanent Notes, meinen damit aber grundsätzlich dasselbe.

Ich bin im Verlaufe meiner Recherchen auf zahlreiche Modelle gestossen, die verschiedene Phasen bzw. Stufen des persönlichen Wissensmanagements beschreiben. Sie unterscheiden sich in den Begrifflichkeiten und in den Details, haben aber dennoch viele Gemeinsamkeiten. Insbesondere betonen alle die Wichtigkeit der Transformation von Temporary Notes in Permanent Notes.

2.2 Das 4C-Modell für das persönliche Wissensmanagement

Ich versuche an dieser Stelle eine Synthese der diversen Modelle in einem eigenen Modell, das ich das 4C-Modell nenne. Dabei unterscheide ich vier Phasen, nämlich Collect, Condense, Connect und Create.

4C-Modell für das persönliche Wissensmanagement

Das 4C-Modell beschreibt sowohl die grundlegenden Arbeitsschritte als auch die Reifegrade des persönlichen Wissensmanagements. Es wird uns später dabei helfen, den Leistungsumfang von digitalen Werkzeugen für das Wissensmanagement zu beurteilen.

2.2.1 Collect – Beschaffung und Sicherung von Informationen

Am Anfang des persönlichen Wissensmanagements steht das Beschaffen und Sichern von Informationen. Dies entspricht der Collect-Phase im 4C-Modell.

Die Beschaffung kann eher aktiv (z.B. indem man aufgrund einer konkreten Fragestellung im Internet recherchiert) oder eher passiv (z.B. indem man eine Vorlesung besucht und dort mit Informationen konfrontiert wird) stattfinden. Mit Sicherung meine ich in diesem Zusammenhang das reine Festhalten des Gelesenen, Gehörten oder Gesehenen (z.B. durch eine Mitschrift, ein Foto oder eine Tonaufnahme).

Die Beschaffung und Sicherung von Informationen ist eine wichtige Voraussetzung für das persönliche Wissensmanagement. Aber sie reicht nicht aus, um diese Informationen wirklich zu verstehen und für sich nutzbar zu machen. Selbst das Wiederfinden zu einem späteren Zeitpunkt könnte schwierig sein, wie viele Studierende feststellen, die zwar alle Vorlesungen mitgeschrieben und chronologisch abgelegt, aber nicht gemäss den folgenden Schritten aufbereitet haben.

2.2.2 Condense – Selektion und Reformulierung von Informationen

Die Condense-Phase umfasst das Selektieren und Reformulieren von Informationen. Damit findet der Übergang vom passiven Informationskonsum zur aktiven Verarbeitung statt. Um ein von Edgar Wright geprägtes Begriffspaar einzuführen: Es ist der Schritt vom Note-Taking zum Note-Making[12]

Das Selektieren findet fast zwangsläufig statt, weil es in der Regel weder möglich noch sinnvoll ist, alles Gehörte oder Gelesene wortwörtlich zu notieren. Für ein optimales Wissensmanagement ist es allerdings entscheidend, wie diese Selektion getroffen wird. Natürlich notiert man sich nur das Wichtigste – aber aufgrund welcher Kriterien entscheiden wir, was wichtig ist?

Oft versuchen wir, der Quelle gerecht zu werden, also einen Vortrag oder einen Fachartikel möglichst vollständig wiederzugeben und dabei die Schwerpunkte des Autors zu übernehmen. Das mag sinnvoll sein, sofern man den Auftrag hat, diesen Vortrag bzw. Fachartikel für Dritte zusammenzufassen. Es ist hingegen nicht zielführend, wenn man Notizen für seine persönlichen Arbeits- und Interessensgebiete erstellt.

Sönke Ahrens legt das ausführlich dar und empfiehlt, Notizen ausschliesslich im Hinblick auf die eigenen Fragestellungen zu machen. [13] Alles, was für die eigene Arbeit keinen Erkenntnisgewinn darstellt (weil es nicht neu oder nicht relevant ist), wird nicht notiert. Als positiver Nebeneffekt dieser Praxis werden die Notizen bei längerer Beschäftigung mit einem Thema zunehmend knapper und die Lektüre dadurch beschleunigt.

Mindestens so wichtig, in der Praxis aber oft vernachlässigt ist das Reformulieren des Gehörten bzw. Gelesenen. Viel zu oft werden Formulierungen mehr oder weniger unverändert in die Notizen übernommen. Das ist effizient, aber nicht effektiv: Erst wenn wir Information in eigene Worte fassen, eignen wir uns Wissen an. Was wir in eigenen Worten ausdrücken, bleibt viel besser in unserem Gedächtnis haften. Die Neuformulierung ist zudem der beste Test dafür, ob wir eine Aussage wirklich verstanden haben, und sie regt eine kritische Auseinandersetzung mit dem neuerworbenen Wissen an. Zitate sollten auf ein Minimum beschränkt werden. Wer lediglich zentrale Passagen aus einem digitalen Text zusammenkopiert bzw. in einem gedruckten Text mit Leuchtstift markiert, verschenkt diese Effekte.

Idealerweise findet bei der Reformulierung auch eine Verdichtung statt, also eine Verknappung und Reduktion auf das Wesentliche. Trotzdem sollten Notizen immer so verfasst werden, dass sie auch mit grossem zeitlichem Abstand noch verständlich sind. In der Konsequenz bedeutet das, dass Notizen aus ausformulierten Sätzen bestehen sollten und nicht nur aus Stichworten. Verschiedene Autoren empfehlen, selbst persönliche Notizen so zu formulieren, als ob sie für eine andere Person verfasst würden.

Unter Umständen kann Reformulierung auch bedeuten, dass man Informationen grafisch statt verbal festhält, beispielsweise in einer Mindmap, in einem Prozessdiagramm oder in einer Karte. Die Transformation von Worten in eine Grafik erfordert ebenfalls eine aktive Auseinandersetzung mit einem Sachverhalt. Die Visualisierung ist allerdings ein Thema für sich, das ich in dieser Arbeit nicht vertiefen kann (und das im Übrigen von den Tools for Thought auch nicht besonders gut unterstützt wird).

2.2.3 Connect – Vernetzung mit bestehendem Wissen

In der Connect-Phase werden neue Informationen mit bestehendem Wissen vernetzt. Dieser Schritt ist zentral: Er macht den Unterschied zwischen kurzfristig nutzbaren Notizen und langfristigem Wissensmanagement.

Das Vernetzen ist hier nicht nur als mentaler, sondern auch als konkreter Vorgang zu verstehen. Es geht darum, neue Erkenntnisse in seine bestehenden Notizen einzusortieren, mit diesen abzugleichen und über Verweise in Beziehung zu setzen. Dies bedingt, dass man so etwas wie eine Kartei oder eine Datenbank nutzt, in der man sein gesamtes Wissen systematisch dokumentiert.

Solche umfassenden Dokumentationen des eigenen Wissens werden oft als «Wissensdatenbank» oder «Wissensbasis» bezeichnet, auch wenn sie im Einzelfall nicht unbedingt alle technischen Kriterien erfüllen. Daneben gibt es den abstrakteren, von Niklas Luhmann geprägten Begriff «Zweitgedächtnis», [14] der im englischen Sprachraum als «Second Brain» populär geworden ist.

Ein Second Brain zu unterhalten ist aufwändig, weil es eine weitere Transformation der Notizen aus der Condense-Phase erfordert. Man kann nicht einfach Vorlesungsnotizen oder Literaturexzerpte eins zu eins in seiner Wissensdatenbank speichern. Vielmehr muss man diese Temporary Notes in kleine, inhaltlich geschlossene Einheiten zerlegen, in den jeweiligen Kontext einordnen und über Links mit seinem bisherigen Wissen vernetzen. Erst dadurch entstehen Permanent Notes. Dieser Prozess ist der Kern dessen, was oft als Zettelkasten-Methode bezeichnet wird, von der wir später noch ausführlicher sprechen werden.

Dieser Aufwand lohnt sich aus zwei Gründen: Erstens erhält man so eine einzige, idealerweise redundanz- und widerspruchsfreie Dokumentation des eigenen Wissens; so kann man zu jedem Thema, das man schon einmal bearbeitet hat, gezielt relevantes und gesichertes Wissen abrufen. Zweitens erzwingt das Einarbeiten von neuer Information in die Wissensbasis eine intensive Auseinandersetzung mit dem Wissensgegenstand; so vertieft man automatisch sein Wissen und memorisiert es besser.

Während die Collect- und die Condense-Phase oft ineinander übergehen, ist die Connect-Phase ein klar getrennter Arbeitsschritt. Diese Trennung ist entscheidend für einen optimalen Arbeitsprozess. Die Auswertung einer Informationsquelle und die Einarbeitung der gewonnenen Erkenntnisse in die eigene Wissensbasis sind zwei grundlegend verschiedene Vorgänge, die man nicht parallel bewältigen kann, wie Sönke Ahrens detailliert beschreibt. [15] Wenn man hingegen zu jeder Lektüre, zu jedem Video und zu jedem Vortrag konsequent Temporary Notes erstellt und diese erst anschliessend in Permanent Notes verwandelt, fördert dies die Fokussierung und die Effizienz der Arbeit wesentlich.

2.2.4 Create – Wiederfinden und Kombinieren von dokumentiertem Wissen

Wissensmanagement beschränkt sich nicht auf die Dokumentation von Wissen. Das eigentliche Ziel von Wissensmanagement ist vielmehr die Nutzung von Wissen. Dies bedingt das Wiederfinden und Kombinieren von dokumentiertem Wissen mit dem Ziel, neue Erkenntnisse und Ideen zu generieren und die Erstellung von Publikationen zu erleichtern. Im 4C-Modell entspricht dies der Create-Phase.

Methoden und Werkzeuge für das persönliche Wissensmanagement müssen zunächst das Wiederfinden unterstützen. Es liegt auf der Hand, dass dies bei digitalen Dokumentationswerkzeugen einfacher ist, weil man über die Volltextsuche sehr schnell sämtliche Erwähnungen eines bestimmten Begriffs findet. In der Praxis zeigt sich allerdings, dass eine Volltextsuche allein noch keinen optimalen Zugriff auf das dokumentierte Wissen erlaubt. Einerseits liefert eine solche Suche oft zu viele Resultate – es braucht also geeignete Filtermöglichkeiten, um die Treffermenge nach bestimmten Kriterien einzuschränken. Andererseits besteht die Gefahr, dass man eine Notiz nicht mehr findet, weil man sich nicht mehr an den entscheidenden Namen oder Begriff erinnert – es braucht also weitere Mechanismen wie Themenbäume und Verweissysteme, um in der eigenen Wissensbasis zu recherchieren.

Nebst der aktiven Suche gibt es auch das passive Finden. Das bedeutet, dass man in einer Wissensbasis zufällig auf Informationseinheiten stösst, dadurch neue Zusammenhänge entdeckt und so eigene Ideen entwickelt. Dieses Prinzip wird als Serendipität bezeichnet. [16] Tools for Thought bieten Mechanismen, die solche Zufallsfunde fördern – aber bereits Luhmann Zettelkasten war, um einen Begriff von Johannes Schmidt zu benutzen, ein «Überraschungsgenerator». [17]

Die eigentliche Anwendung des wiedergefundenen Wissens besteht häufig darin, dieses mündlich oder schriftlich weiterzugeben, also eine Präsentation oder eine Publikation zu erstellen. Idealerweise bieten also Werkzeuge für das persönliche Wissensmanagement auch Möglichkeiten, um die Fundstellen im Hinblick auf den aktuellen Verwendungszweck zu organisieren. Auch auf diesen Aspekt werden wir noch zurückkommen, wenn wir die Tools for Thought später konkret betrachten.

[10] Jones 2007.

[11] Der Text ist Teil von Matuschak o.J.: https://notes.andymatuschak.org/z2ZAGQBHuJ2u9WrtAQHAEHcCZTtqpsGkAsrD1

[12] Wright 1962.

[13] Ahrens 2017, Kap. 10.

[14] Zettelkasten II, Zettel 9/8,2 https://niklas-luhmann-archiv.de/bestand/zettelkasten/zettel/ZK_2_NB_9-8-2_V

[15] Ahrens 2017, Kap. 9.

[16] Serendipität (engl. Serendipity) bezeichnet das Prinzip, dass eine zufällige Beobachtung dank der Intelligenz und Kreativität des Beobachters zu einer neuen Erkenntnis führt. Der Begriff wurde durch den Soziologen Robert K. Merton in seinem Werk The Travels and Adventures of Serendipity (1945) geprägt.

[17] Schmidt 2015.